Einführung #
Pflege und Erziehung der Kinder ist Aufgabe der Eltern. Eltern sind verpflichtet ihre Kinder zu Eigenverantwortlichkeit und Gemeinschaftsfähigkeit zu erziehen. Sind Eltern – gleich aus welchem Grund – hierzu nicht in der Lage oder hierzu nicht Willens, greift der Schutzauftrag des Staates. Der Staat muss zunächst versuchen, Eltern, die ihrer Erziehugnsverantwortung nicht gerecht werden, zu helfen und zu unterstützen. Erst wenn dieses nicht genügt, muss der Staat das Elternrecht beschränken. Die Vorschriften zu den Hilfen zur Erziehung setzen diesen Auftrag um und regeln die Hilfen, welche Eltern angeboten werden, wenn sie aus eigener Kraft ihrer Erziehungsverantwortung nicht ausreichend gerecht werden können.
Vgl. hierzu die Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts, Beschluss vom 29.07.1968 – 1 BvL 20/63; 1 BvL 31/66; 1 BvL 5/67, Rn. 60 f. (Hervorhebungen nicht im Original):
„Die Eltern haben das Recht, die Pflege und Erziehung ihrer Kinder nach ihren eigenen Vorstellungen frei zu gestalten und genießen (…) Vorrang vor anderen Erziehungsträgern. Dieser Grundrechtsschutz darf aber nur für ein Handeln in Anspruch genommen werden, das bei weitester Anerkennung der Selbstverantwortlichkeit der Eltern noch als Pflege und Erziehung gewertet werden kann, nicht aber für das Gegenteil: die Vernachlässigung des Kindes. Die Verfassung macht dies durch die Verknüpfung des Rechts zur Pflege und Erziehung mit der Pflicht zu dieser Tätigkeit deutlich. Diese Pflichtbindung unterscheidet das Elternrecht von allen anderen Grundrechten (…). Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG schützt danach die freie Entscheidung der Eltern darüber, wie sie dieser natürlichen Verantwortung gerecht werden wollen; er schützt nicht diejenigen Eltern, die sich dieser Verantwortung entziehen.
Wenn Eltern in dieser Weise versagen, greift das Wächteramt des Staates nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG ein; der Staat ist nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, die Pflege und Erziehung des Kindes sicherzustellen. (…) Der Staat muß daher nach Möglichkeit zunächst versuchen, durch helfende, unterstützende, auf Herstellung oder Wiederherstellung eines verantwortungsgerechten Verhaltens der natürlichen Eltern gerichtete Maßnahmen sein Ziel zu erreichen. Er ist aber nicht darauf beschränkt, sondern kann, wenn solche Maßnahmen nicht genügen, den Eltern die Erziehungs- und Pflegerechte vorübergehend und sogar dauernd entziehen; in diesen Fällen muß er zugleich positiv die Lebensbedingungen für ein gesundes Aufwachsen des Kindes schaffen.“
Die Hilfen zur Erziehung sind in den §§ 27 bis 35 SGB VIII geregelt. Die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung von Hilfe zur Erziehung sind in § 27 SGB VIII geregelt. In den §§ 28 bis 35 SGB VIII werden klassische und tradierte Arten der Hilfe zur Erziehung geregelt.
Voraussetzungen #
Personensorgeberechtigte als Anspruchsinhaber
Der Anspruch auf Hilfe zur Erziehung steht dem oder den Personensorgeberechtigten zu.
Eltern
Grundgedanke der Regelung ist, dass Eltern durch die Gewährung von Hilfe zur Erziehung in ihrer Elternverantwortung gestärkt werden, um so deren Potentiale für eine Entwicklung des Kindes hin zu stärken.
Lies: § 27 Absatz 1 SGB VIII
Die Hilfe ist nicht an einen förmlichen Antrag gebunden. Die Eltern müssen den Hilfebedarf aber an das Jugendamt „herantragen“, also deutlich machen, dass sie die Hilfe aus eigenem Antrieb wollen. Es genügt jede (eindeutige) Willensbekundung des Personensorgeberechtigten, Hilfe zur Erziehung in Anspruch nehmen zu wollen.
Vgl. Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 30.06.2016, Aktenzeichen, 12 C 16.1162, Rn. 36
Kinder- und Jugendliche sind nicht Anspruchsinhaber und können deshalb selbst keine Antrag auf Hilfe zur Erziehung stellen und sind formal auch nicht die Empfänger der Leistung. Dies erscheint insofern widersprüchlich, weil sie in vielen Fällen, vor allem im Bereich der stationären Hilfe zur Erziehung das Objekt der Hilfe, also die „Beholfenen“ sind.
Negative Konsequenz dieser Regelung ist, dass Kindern und Jugendlichen der Zugang zu Hilfe zur Erziehung verwehrt bleibt, wenn die sorgeberechtigten Eltern die Inanspruchnahme von Hilfe ablehnen. Hilfe zur Erziehung kann in diesen Fällen erst dann umgesetzt werden, wenn das Personensorgerecht durch das Familiengericht beschränkt oder entzogen wurde. Dies setzt jedoch eine Kindswohlgefährdung voraus. Liegt (noch) keine Kindswolgefährdung vor und lehen die Eltern die Inanspruchnahme von Hilfe ab, gib es keinen Zugang zu Hilfe zur Erziehung für das Kind oder den Jugendlichen.
Vormünder und Pfleger
Wurde das Sorgerecht auf Grundlage des § 1666 BGB entzogen, steht der Anspruch auf Hilfe zur Erziehung einem Vormund oder einer Vormundin zu.
Ist der Vormund oder die Vormundin zugleich Mitarbeiterin oder Mitarbeiter des Jugendamtes, kann es zu Interessenkollisionen kommen, mit der Folge, dass der Vormund oder die Vormundin die Interessen des Mündels nicht angemessen wahrnehmen kann.
In einem solchen Fall kann jede Person, also zum Beispiel auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus Jugendhilfeeinrichtungen oder Pflegeltern die Einleitung eines Verfahrens anregen.
Lies: § 24 FamFG
Ziel eines solchen Verfahrens kann es sein, dass das Familiengericht auf den Vormund oder die Vormundin in der Weise einwirkt, dass allein Kindeswohlbelange bei den Entscheidungen berücksichtigt werden. Dem Familiengericht stehen dafür unterschiedliche Instrumente der Einwirkung zu Verfügung. Es kann den Vormund oder die Vormundin beraten und auch gegen Pflichtwidrigkeiten durch geeignete Gebote und Verbote einschreiten. Auch kann es den Vormund oder die Vormundin entlassen.
Lies: § 1837 Abs.1 und 2 BGB und § 1887 Abs.1 SGB VIII
Eine nicht kindeswohlgerechte Wahrnehmung von Kindeswohlinteressen kann es auch bei Einzelvormündern geben. Die vorstehenden Ausführungen gelten hier entsprechend.
Lies: § 1886 BGB
Erzieherischer Bedarf
Hilfe zur Erziehung kommt in Betracht, wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist (erzieherischer Bedarf).
Lies: § 27 Abs. 1 SGB VIII
Der Begriff des erzieherischen Bedarfs hat eine Nähe zum Begriff der Kindeswohlgefährdung in § 1666 BGB, ist aber nicht deckungsgleich. Die Gewährung von Hilfe zur Erziehung soll bereits im Vorfeld von Kindeswohlgefährdungen möglich sein. Die Schwelle für die Gewährung von Leistungen zu Hilfe zur Erziehung ist deshalb niedriger als die Schwelle für Eingriffe nach § 1666 BGB.
Hilfe geeignet und notwendig
Die Hilfe muss geeignet und erforderlich sein.
Lies: § 27 Abs. 1 SGB VIII
Es ist nicht abschließend geklärt und umstritten, ob es sich bei dieser Formulierung um ein Tatbestandsmerkmal oder um einen Verweis auf die im Einzelfall richtige Rechtsfolge handelt.
Rechtsfolge #
Liegen die Voraussetzungen vor, besteht nach § 27 Abs. 1 SGB VIII ein „Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung)“. Dieser Rechtsanspruch wird in § 27 Abs.2 SGB VIII konkretisiert.
Lies: § 27 Abs.2 S.1 SGB VIII
Hilfekatalog und sonstige Hilfen
Die in dem Katalog der Hilfen von §§ 28 bis 35 SGB VIII aufgeführten Hilfen spiegeln tradierte und anerkannte sozialpädagigische und damit verbundene therapeutische Leistungen wieder. Durch die Formulierung in § 27 Abs. 2 S. 1 SGB VIII „…wird insbesondere nach Maßgabe der §§ 28 bis 35 gewährt.“ bringt der Gesetzgeber zum Ausdruck, dass die in §§ 28 – 35 SGB VIII aufgeführten Hilfen nicht abschließend sind. Es kann deshalb jede Hilfe gewährt werden, die geeignet ist, den Bedarf im Einzelfall zu decken.
Lies: § 27 Abs.2 S.2 SGB VIII
Ermessen
Auf die Gewährung von Hilfe zur Erziehung besteht ein Rechtsanspruch.
Hinsichtlich der Frage welche Hilfeart im Einzelfall bedarfsdeckend ist, hat das Jugendamt nach herrschender Rechtsprechung ein sogenanntes „Auswahlermessen“. Dies hat zur Konsequenz, dass die Entscheidung des Jugendamtes über die Hilfeart nur eingeschränkt durch ein Verwaltungsgericht überprüft werden kann.
Ermessen bedeutet jedoch nicht, dass das Jugendamt gleichsam beliebig oder auch willkürlich entscheiden kann. Oberste Richtschnur bei der Ermessensentscheidung ist der Bedarfsdeckungsgrundstz. Es muss diejenige Hilfe gewählt werden, die den Bedarf des Hilfesuchenden deckt.
Typische Ermessensfehler sind:
- Das Ermessen wird nicht ausgeübt.
- Die Entscheidung leidet unter Verfahrensfehlern, die das Ergebnis der Entscheidung hätten beeinflussen können (z.B. keine oder unzureichende Hilfeplanung).
- Es wurden sachfremde Erwägungen angestellt (z.B.: Das Jugendamt lässt sich bei der Entscheidung allein von haushaltsrechtlichen Erwägungen leiten).
- Das Wunsch- und Wahlrecht (§ 5 Absatz 1 SGB VIII) der Leistungsberechtigten wird nicht beachtet.
- Es erweist sich nur eine Hilfe als bedarfsdeckend („Eremssensreduzierung auf Null“).