Einführung #
Der Gesetzgeber geht grundsätzlich davon aus, dass junge Menschen mit Erreichen der Volljährigkeitsgrenze in der Lage sind, ihr Leben selbstbestimmt, eigenverantwortlich und selbständig zu gestalten. Mit Erreichen des 18. Lebenjahres werden junge Menschen volljährig und können im Rechtsverkehr und auch sonst alle für sich notwendigen Erklärungen abgeben.
Tatsächlich haben viele junge Menschen auch nach Erreichen der Volljährigkeitsgrenze Unterstützungsbedarf und erfahren diese Unterstützung in der Regel auch familiär. Junge Menschen, die auf die familiären Systeme nicht zurückgreifen können oder die einen Unterstützungsbedarf haben, der durch ein familiäres System nicht aufgefangen werden kann, erhalten auch nach Erreichen der formalen Volljährigkeitsgrenze (vgl. § 2 BGB) weiter Unterstützung durch das System Jugendhilfe.
Voraussetzungen #
Wenn die Persönlichkeitsentwicklung eine selbstbestimmte, eigenverantwortliche und selbstständige Lebensführung nicht gewährleistet, erhalten junge Volljährige geeignete und notwendige Hilfe.
Lies: § 41 Abs.1 S.1 SGB VIII
Keine selbstbestimmte, eigenverantwortliche und selbständige Lebensführung möglich
Der Anspruch auf Hilfe für junge Volljährige wurde durch das „Kinder- und Jugendstärkungsgesetz – KJSG“ (Bundesgesetzblatt Teil I, Nr. 29 vom 09.06.2021) wesentlich gestärkt. Mit der Neufassung des § 41 Abs. 1 S.1 SGB VIII wurde zunächst der Tatbestand der Vorschrift geschärft: Wenn die Persönlichkeitsentwicklung eine selbstbestimmte, eigenverantwortliche und selbständige Lebensführung nicht gewährleistet, ist Hilfe zu gewähren. Neben der Präzisierung des Tatbestandes ist die Vorschrift nunmehr klar als Rechtsanspruch (zuvor: Soll-Leistung) formuliert.
Die Begründung zum Gesetzentwurf (Bundestagsdrucksache 19/26107, S. 94) formuliert zur Neuregelung:
„Der Prüfungsauftrag an den öffentlichen Träger lautet künftig, festzustellen, ob im Rahmen der Möglichkeiten des jungen Volljährigen die Gewährleistung einer Verselbstständigung nicht oder nicht mehr vorliegt. Ist dies der Fall, so muss dem jungen Volljährigen in jedem Fall eine geeignete und notwendige Hilfe (weiterhin) gewährt werden.“
Die Anforderungen an die Prognoseentscheidung des öffentlichen Trägers sind damit im Vergleich zur geltenden Regelung des § 41 Abs.1 S.1 SGB VIII geschärft, rechtsklarer und rechtssicherer gefasst. Es wird nunmehr klargestellt: Eine Hilfegewährung nach § 41 SGB VIII verlangt keine Prognose dahingehend, dass die Befähigung zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres oder bis zu einem begrenzten Zeitraum darüber hinaus erreicht werden muss. Die Prognoseentscheidung nach dem neu gefassten Satz 1, die der öffentliche Träger zu treffen hat, erfordert künftig vielmehr eine „Gefährdungseinschätzung“ im Hinblick auf die Verselbständigung.
Vgl. Bundestagsdrucksache 19/26107, S. 94:
„Eine Hilfegewährung nach § 41 SGB VIII verlangt keine Prognose dahingehend, dass die Befähigung zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres oder bis zu einem begrenzten Zeitraum darüber hinaus erreicht wird.“
Damit wird deutlich, dass die Neuregelung nach der Intention des Gesetzgebers mehr ist, als eine redaktionelle Klarstellung.
Der Anspruch ist zu einem Rechtsanspruch aufgewertet worden.
Zum Rechtsanspruchscharakter der Vorschrift, vgl.: VG München, Beschluss vom 30. Juni 2021 – M 18 E 21.3326 –, Rn. 1 sowie Oberverwaltungsgericht des Saarlandes, Beschluss vom 20. Dezember 2021 – 2 B 266/21 –, Rn. 1 (beide Entscheidungen sind nach Inkrafttreten der Neuregelung ergangen).
Ergibt die “Gefährdungseinschätzung”, dass eine Verselbständigung aufgrund der Persönlichkeitsentwicklung gefährdet ist, ist Hilfe zu gewähren.
Diese Auslegung entspricht zwar ständiger Rechtsprechung und auch der herrschenden Auffassung in der Literatur, wurde aber in der Praxis immer wieder missachtet. Regelmäßig wurden Hilfen mit der Begründung verweigert, eine erfolgreiche Verselbständigung sei innerhalb der in § 41 SGB VIII genannten Zeiträume nicht zu erreichen.
Altersgrenzen
Die Hilfe richtet sich an junge Volljährige im Altern von 18 bis 26 Jahre.
Lies: § 7 Abs.1 Nr.3 SGB VIII
§ 41 SGB VIII differenziert bei den jungen Volljährigen zwei Gruppen: diejenigen im Alter von 18 bis 20 Jahren einerseits und diejenigen von 21 – 26 Jahren andererseits.
Lies: § 41 Abs.1 S.2 SGB VIII
Alter 18 – 20 Jahren
In der Altersgruppe von 18 bis 20 haben ist jungen Volljährigen Hilfe zu gewähren, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen von § 41 Abs.1 S.1 SGB VIII vorliegen. Siehe dazu oben unter „Voraussetzungen“.
Insbesondere kann die Hilfe auch erst mit der Volljährigkeit beginnen. Es ist nicht notwendig, dass die Hilfe schon während der Zeit der Minderjährigkeit gewährt wurde.
Alter von 21 bis 26 Jahren
Im Alter von 21 bis 26 Jahren kann die Hilfe nur in begründeten Einzelfällen und auch nur dann gewährt werden, wenn bereits vor dem 21. Lebensjahr Hilfe für junge Volljährige gewährt wurde.
Typische Fälle für eine Fortsetzung der Hilfe über das 21. Lebensjahr hinaus sind solche, in denen die Hilfe weiter gewährt werden muss, weil die berufliche oder schulische Ausbildung noch nicht abgeschlossen ist.
Unterbrechung der Hilfe
Ein weiterer in der Praxis häufig umstrittener Punkt wurde vom Gesetzgeber aufgegriffen, nämlich die Frage ob die Unterbrechung einer Hilfe die erneute Gewährung von Hilfe ausschließt. Ausdrücklich formuliert nun § 41 Abs.1 S.3 SGB VIII, dass eine Beendigung der Hilfe die erneute Gewährung von Hilfe nicht ausschließt. Temporäre Hilfeabbrüche können den Hilfesuchenden damit nicht mehr entgegengehalten werden. Außerdem spielt die Vorschrift im Kontext der Fortsetzungshilfen für über 21-jährige eine entscheidende Rolle. Haben sie vor Beendigung des 21. Lebensjahres die Hilfe unterbrochen und wollen sie diese nach Vollendung des 21. Lebensjahres wieder aufnehmen, kann ihnen der Hilfeabbruch nicht entgegengehalten werden, denn die Neureglung spricht ausdrücklich davon, dass eine Beendigung der Hilfe auch im Hinblick auf eine “Fortsetzung” der Hilfe unschädlich ist. Der Wortlaut nimmt also ausdrücklich auf die Regelung zur Fortsetzungshilfe nach Vollendung des 21. Lebensjahres Bezug.
Rechtsfolge #
Hinsichtlich der Art und Ausgestaltung der Hilfe verweist § 41 Abs.2 SGB VIII auf die Hilfen zur Erziehung und die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche.
Lies: § 41 Abs.2 SGB VIII
Im Ergebnis sind dort alle Vorschriften aufgezählt, die solche Hilfearten enthalten, die auch eine Verselbstständigung des jungen Menschen ermöglichen können. Dagegen sind solche Hilfearten, die einen familiären Bezug haben und darauf ausgerichtet sind das „System Familie“ zu stärken, ausgeschlossen. In der Praxis haben sich neben so genannten Regelangeboten für junge Volljährige eine Reihe von Spezialangeboten insbesondere für junge Frauen, Suchtkranke und psychisch kranke junge Menschen herausgebildet.
Übergangsplanung #
Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe bereits ab einem Jahr vor einer etwa beabsichtigten Beendigung der Hilfe prüfen, ob ein Zuständigkeitsübergang auf andere Leistungsträger in Betracht kommt.
Lies: § 41 Abs.3 SGB VIII
Insbesondere kommen folgende Leistungen in Betracht:
- SGB II-Leistungen (Lebensunterhalt)
- Bafög-Leistungen (Lebensunterhalt)
- Psychosoziale Leistungen
- Leistungen zur Eingliederung in Arbeit nach §§ 16 ff. SGB II
- Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten nach § 67 SGB XII
- Leistungen der Eingliederungshilfe, sowie
- Hilfen zur Unterstützung bei der Suche nach geeignetem Wohnraum.
Abgrenzungsstreitigkeiten #
Im Zusammenhang mit der Beantragung von Leistungen nach § 41 SGB VIII kommt es immer wieder zu Abgrenzungsschwierigkeit im Zusammenhang mit anderen Leistungen. So werden Hilfesuchenden unter Verweis auf die Zuständigkeit anderer Leistungsträger Hilfen verweigert. Hilfesuchende, die nicht die Fähikgeiten und die Kraft haben, um weitere Hilfen nachzusuchen, erhalten keine Hilfe.
Insbesondere kann ein Anspruch auf folgende weitere Leistungen bestehen:
- Eingliederungshilfe nach § 99 SGB IX, § 102 SGB IX,
- Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten, § 67 SGB XII,
- Arbeitslostengeld II, § 19 SGB II sowie
- Leistungen zur Eingliederung §§ 16 – 16i SGB II.
Praxistipp:
Wenn Behörden sich gegenseitig verantwortlich machen und gegenseitig die Zuständigkeit zuweisen, ist es sinnvoll, Anträge bei allen in Betracht kommenden Sozialleistungsträgern zu stellen. Wenn also zum Beispiel das Jugendamt bei einem Antrag nach § 41 SGB VIII auf das Sozialamt verweist und das Sozialamt umgekehrt bei einem Antrag für Leistungen nach § 67 SGB XII auf das Jugendamt verweist, ist es wichtig, bei beiden Behörden formal Anträge zu stellen.
Weiter sollte dann, wenn die Behörden gegenseitig auf die Zuständigkeit der jeweils anderen Behörde verweisen, bei der Behörde, bei der zuerst die Leistung beantragt wurde, ein Antrag auf vorläufige Leistungen nach § 43 Abs.1 S.2 SGB I gestellt werden.
Insgesamt sind bei solchen Zuständigkeitsstreits also drei schriftliche Anträge erforderlich:
- Antrag bei Behörde A (zum Beispiel dem Jugendamt nach § 41 SGB VIII)
- Antrag bei Behörde A (zum Beispiel beim Sozialamt nach § 67 SGB XII)
- Antrag bei Behörde A auf vorläufige Leistungen nach § 43 SGB I.
Nachbetreuung #
§ 41a SGB VIII weitet den vormals in § 41 Abs.3 VIII geregelten Anspruch junger volljähriger Hilfebedürftiger auf nachgehende Betreuung aus. Er ist nunmehr ausdrücklich als Anspruch auf “Nachbetreuung” in Form eines Rechtsanspruchs (zuvor: “Soll-Regelung”) ausgestaltet. Die Beratung und Unterstützung hat in einer für die Zielgruppe verständlichen, nachvollziehbaren und wahrnehmbaren Form zu erfolgen.
Hervorzuheben ist auch, dass die “Nachbetreuung” auch nach Abschluss der vorgehenden Hilfe für junge Volljährige im Hilfeplan dokumentiert werden muss. Außerdem besteht ein Gebot zur regelmäßigen Kontakaufnahme mit dem jungen volljährigen Menschen. Insgesamt wurde der Anspruch auf Nachbetreuung durch die Aufwertung des materiellen Anspruchs sowie durch die Vorgaben zur Hilfeplanung und Kontaktaufnahme deutlich gestärkt.
Lies: § 41a SGB VIII