Einleitung #
Biographiearbeit hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem bedeutenden Ansatz in der Sozialen Arbeit, insbesondere in der Kinder- und Jugendhilfe, entwickelt. Diese Methode ermöglicht es Fachkräften, die Lebensgeschichten ihrer Klienten besser zu verstehen und gemeinsam mit ihnen neue Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten zu erarbeiten. Der folgende Artikel beleuchtet die Grundlagen, Ziele und Methoden der Biographiearbeit sowie ihre spezifische Anwendung in der Kinder- und Jugendhilfe.
Theoretische Grundlagen der Biographiearbeit #
Der folgende Abschnitt gibt einen kurzen Überblick über den Hintergrund und die wichtigsten Theorien der Biographiearbeit. Aufbauend auf dieser Basis und verschiedenen Grundannahmen wurden die Methoden für die praktische Biographiarbeit entwickelt.
Konstruktivistische Perspektive
Die konstruktivistische Perspektive in der Biographiearbeit gründet auf der fundamentalen Erkenntnis, dass Menschen ihre Wirklichkeit aktiv konstruieren. Dies bedeutet für die biografische Arbeit, dass Erinnerungen keine objektiven Abbilder der Vergangenheit darstellen, sondern im Hier und Jetzt konstruierte Bedeutungszusammenhänge sind. Die subjektive Wahrheitsbildung spielt dabei eine zentrale Rolle: Verschiedene Menschen können das gleiche Ereignis unterschiedlich erinnern und deuten, wobei die Bedeutung von Erlebnissen durch aktuelle Lebensumstände kontinuierlich neu interpretiert wird. Für die praktische Arbeit ergibt sich daraus die Notwendigkeit, den Fokus auf die subjektiven Deutungsmuster der Klienten zu legen und verschiedene Perspektiven auf die gleiche Geschichte zu akzeptieren. Dies eröffnet die Möglichkeit, belastende Erfahrungen bewusst umzudeuten und neue Handlungsperspektiven zu entwickeln.
Narrativen Identität
Das Konzept der narrativen Identität beschreibt den grundlegenden Prozess, wie Menschen ihre Identität durch das Erzählen ihrer Lebensgeschichte entwickeln und aufrechterhalten. Dabei geht es um weit mehr als das bloße Nacherzählen von Ereignissen. Die narrative Identität entsteht durch die kontinuierliche Reflexion und Neuinterpretation der eigenen Geschichte, wobei Lebensgeschichten fortwährend umgeschrieben und an neue Erfahrungen und Erkenntnisse angepasst werden. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Herstellung verschiedener Formen von Kohärenz: Die temporale Kohärenz verbindet Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einem stimmigen Ganzen, während die biografische Kohärenz für die innere Stimmigkeit der Lebensgeschichte sorgt. Die kausale Kohärenz wiederum ermöglicht das Verständnis von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen im eigenen Lebensverlauf. In der praktischen Arbeit steht daher die Förderung narrativer Kompetenz im Vordergrund, verbunden mit der Unterstützung bei der Integration schwieriger Lebensereignisse und der Entwicklung alternativer Erzählungen.
Das salutogenetische Modell
Das salutogenetische Modell nach Antonovsky bietet für die Biographiearbeit wichtige Perspektiven zur Gesundheitsförderung und Resilienzentwicklung. Im Zentrum steht das Kohärenzgefühl (Sense of Coherence), das sich aus drei wesentlichen Komponenten zusammensetzt: der Verstehbarkeit von Lebensereignissen, der Handhabbarkeit von Herausforderungen und der Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens. Antonovsky beschreibt verschiedene generalisierte Widerstandsressourcen, die Menschen zur Bewältigung von Herausforderungen zur Verfügung stehen. Diese umfassen materielle Ressourcen ebenso wie Wissen und Intelligenz, eine stabile Ich-Identität, soziale Unterstützung und kulturelle Stabilität. In der biografischen Arbeit wird gezielt an der Stärkung des Kohärenzgefühls gearbeitet, wobei die Identifikation und Aktivierung vorhandener Ressourcen sowie die Entwicklung neuer Bewältigungsstrategien im Mittelpunkt stehen.
Lebensweltorientierung
Die Lebensweltorientierung nach Thiersch betont die fundamentale Bedeutung der alltäglichen Erfahrungswelt für die soziale Arbeit. Dieser Ansatz basiert auf dem grundlegenden Respekt vor der Eigenlogik der Lebenswelt der Klienten und orientiert sich an den im Alltag vorhandenen Ressourcen. Dabei spielen soziale Netzwerke eine wichtige Rolle als Unterstützungssysteme. Die Lebensweltorientierung folgt verschiedenen Strukturmaximen, die sich gegenseitig ergänzen und verstärken: Prävention, Alltagsnähe, Integration, Partizipation und Dezentralisierung.
Prävention zielt auf die Vermeidung von Krisen, während Alltagsnähe die Zugänglichkeit von Hilfen sicherstellt. Integration und Partizipation fördern die gesellschaftliche Teilhabe, und Dezentralisierung ermöglicht eine an lokalen Bedürfnissen orientierte Unterstützung. In der biografischen Arbeit führt dies zu einer umfassenden Berücksichtigung des sozialen Umfelds und kultureller Hintergründe, wobei der Fokus stets auf der Verbesserung der Alltagsbewältigung liegt.
Ziele und Funktionen der Biographiearbeit #
Biographiearbeit verfolgt das übergeordnete Ziel, Menschen in ihrer persönlichen Entwicklung und Identitätsbildung zu unterstützen. Im Zentrum steht dabei die Stärkung des Selbstverständnisses durch die bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte. Ein weiteres wichtiges Ziel ist die Aktivierung von Ressourcen, indem vergangene Bewältigungsstrategien und Stärken bewusst gemacht und für aktuelle Herausforderungen nutzbar gemacht werden. Das Erleben von Kontinuität wird gefördert, indem Zusammenhänge zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hergestellt werden. Nicht zuletzt trägt die Reflexion der eigenen Biographie zur Sinnfindung bei, indem sie hilft, dem Leben eine tiefere Bedeutung zu geben.
Methoden der Biographiearbeit in der Kinder- und Jugendhilfe #
In der praktischen Umsetzung der Biographiearbeit kommen vielfältige methodische Ansätze zum Einsatz. Narrative Interviews bilden häufig den Ausgangspunkt für die biografische Exploration. Die Erstellung von Lebenslinien oder Lebensbäumen ermöglicht eine visuelle Darstellung wichtiger Lebensereignisse und deren Zusammenhänge. Die Arbeit mit Fotos und persönlichen Gegenständen schafft einen konkreten Bezug zur eigenen Geschichte und ermöglicht emotionale Zugänge. Die Genogramm-Arbeit hilft dabei, familiäre Beziehungen und Muster zu verstehen. Kreative Methoden wie Malen oder Schreiben ergänzen das methodische Repertoire und bieten alternative Ausdrucksmöglichkeiten. Dabei ist stets ein ressourcenorientierter und wertschätzender Ansatz zentral, der die Klienten als Experten ihrer eigenen Lebensgeschichte anerkennt.
Im Anschluss werden einige dieser Methoden näher erläutert.
Das Lebensbuch als biografische Methode in der Pflegekinderhilfe
Die Arbeit mit dem Lebensbuch hat sich besonders in der Begleitung von Pflegekindern als wirksame Methode etabliert. In regelmäßigen, etwa zweiwöchentlichen Treffen von 60 bis 90 Minuten Dauer wird in einem ritualisierten Rahmen an der persönlichen Geschichte gearbeitet.
Die Gestaltung erfolgt idealerweise in einem geschützten Setting, das Vertrautheit und emotionale Sicherheit gewährleistet. Das Ritual kann beispielsweise aus einer Anfangsrunde mit einer Gefühlsabfrage, einer Kernarbeitsphase und einer gemeinsamen Abschlussreflexion bestehen.
Das Lebensbuch umfasst dabei verschiedene thematische Bereiche, die aufeinander aufbauen und sich gegenseitig ergänzen. Die chronologische Darstellung wichtiger Lebensereignisse bildet das Grundgerüst, in das die Vorstellung aller wichtigen Bezugspersonen eingebettet wird. Ein wichtiges Element ist die „Zeitreise durch mein Leben“, bei der bedeutsame Ereignisse chronologisch aufgearbeitet werden. Dazu gehören etwa die Geburt, erste Lebensjahre, der Übergang in die Pflegefamilie und besondere Meilensteine der Entwicklung. Besondere Aufmerksamkeit gilt der emotionalen Verarbeitung von Trennung und Verlust, wobei stets auch die vorhandenen Stärken und Ressourcen im Blick bleiben. Die Gestaltung erfolgt multimedial: Fotokollagen werden mit persönlichen Kommentaren versehen, selbst gemalte Bilder verschiedener Lebensphasen integriert und Briefe an wichtige Personen verfasst. Auch bedeutsame Dokumente wie Zeugnisse oder Urkunden finden ihren Platz, ebenso wie symbolische Objekte, deren persönliche Bedeutung reflektiert wird. Die Integration von Erinnerungsstücken spielt dabei eine wichtige Rolle: Fotos, Zeitungsausschnitte, Eintrittskarten, Schulzeugnisse oder kleine persönliche Gegenstände werden zu einem lebendigen Dokument der eigenen Geschichte zusammengefügt.
Konkrete Aufgabenvorschläge für die Arbeit mit dem Lebensbuch:
- „Meine Namensgeschichte“: Erforschung der Bedeutung des eigenen Namens, wer ihn ausgesucht hat und welche Geschichten damit verbunden sind.
- „Gefühlslandkarte“: Zeichnerische Darstellung verschiedener Orte und Menschen, die mit unterschiedlichen Gefühlen verbunden sind.
- „Brief an mein jüngeres Ich“: Verfassen eines empathischen Briefes an sich selbst zu einem wichtigen Zeitpunkt der Vergangenheit.
- „Meine Familienkiste“: Sammlung von Gegenständen, die die Verbindung zu beiden Familiensystemen symbolisieren.
- „Zukunftsreise“: Gestaltung einer Collage oder eines Vision Boards mit Wünschen und Träumen für die Zukunft.
Mehrgenerationale Perspektiven durch Genogramm-Arbeit
Die Genogramm-Arbeit mit Jugendlichen stellt einen mehrstufigen Prozess dar, der tiefe Einblicke in familiale Strukturen und Beziehungsmuster ermöglicht. Der Prozess beginnt mit einer sorgfältigen und sensiblen Annäherung an die Familiengeschichte, wobei zunächst grundlegende biografische Daten gesammelt werden. Es werden sowohl faktische Daten als auch emotionale Aspekte berücksichtigt.
In der anschließenden Visualisierung der Familienstruktur werden die komplexen Beziehungsgeflechte über mehrere Generationen hinweg schrittweise sichtbar gemacht. Die vertiefte Analyse von Beziehungsmustern ermöglicht es den Jugendlichen, wiederkehrende Dynamiken zu erkennen und zu verstehen. Besonders wertvoll ist dabei die Erweiterung des klassischen Genogramms um emotionale Dimensionen, bei der die Gefühlsqualitäten verschiedener Beziehungen exploriert werden. Auch kulturelle Einflüsse und familiäre Ressourcen können gezielt in den Blick genommen werden. In der begleitenden Reflexion setzen sich die Jugendlichen mit Fragen nach familiären Mustern, Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen Generationen sowie der Tradierung von Stärken auseinander. Dies ermöglicht ihnen, ihre eigene Position im Familiensystem besser zu verstehen und bewusste Entscheidungen für ihre Zukunft zu treffen.
Die Erarbeitung eines Genogramms erfolgt idealerweise über mehrere Sitzungen, wobei jede Sitzung einen spezifischen Fokus hat. In der ersten Phase steht die Sammlung faktischer Informationen im Vordergrund. Die zweite Phase widmet sich der Exploration von Beziehungsqualitäten und emotionalen Bindungen. In der dritten Phase werden Ressourcen, Stärken und positive Traditionen der Familie herausgearbeitet. Die abschließende Phase dient der Integration der Erkenntnisse und der Entwicklung von Zukunftsperspektiven.
Konkrete Aufgabenvorschläge für die Genogramm-Arbeit:
- „Familienschätze entdecken“: Dokumentation besonderer Fähigkeiten, Traditionen und Ressourcen in der Familie über drei Generationen.
- „Beziehungsbarometer“: Visualisierung der Beziehungsqualitäten durch verschiedene Farben und Symbole, die emotional bedeutsame Verbindungen darstellen.
- „Familiengeschichten-Sammlung“: Aufzeichnung von Anekdoten, Überlieferungen und prägenden Ereignissen in der Familiengeschichte.
- „Ressourcenlandkarte“: Mapping von Unterstützungspersonen und positiven Einflüssen im erweiterten Familiensystem.
- „Zukunftsgenogramm“: Entwicklung einer Vision, wie der Jugendliche die eigenen familiären Beziehungen in Zukunft gestalten möchte.
Biografische Zeitstrahlarbeit
Die Arbeit mit Zeitstrahlen hat sich besonders in der Begleitung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge als wertvolle Methode Strukturierung und Integration ihrer Erfahrungen erwiesen. Die methodische Umsetzung berücksichtigt dabei die spezifischen Bedürfnisse dieser Zielgruppe durch einen mehrsprachigen Ansatz und die sensible Integration kultureller Elemente. Besondere Bedeutung kommt der traumasensiblen Gestaltung zu, die es den Jugendlichen ermöglicht, ihre Geschichte in einem sicheren Rahmen zu erkunden. Der Zeitstrahl beginnt typischerweise mit dem Leben im Herkunftsland und umfasst die Gründe für die Flucht sowie die verschiedenen Stationen der Fluchtroute. Die Ankunft in Deutschland markiert dabei einen wichtigen Wendepunkt, von dem aus auch der Blick in die Zukunft gerichtet wird. Die Dokumentation erfolgt durch eine Kombination verschiedener Ausdrucksformen: Zeichnungen und Fotografien werden ebenso eingesetzt wie geografische Karten und Audioaufnahmen. Die mehrsprachige Beschriftung ermöglicht es den Jugendlichen, ihre Geschichte sowohl in ihrer Muttersprache als auch in der neuen Sprache zu erzählen und zu reflektieren.
Die Zeitstrahlarbeit gliedert sich in verschiedene thematische Phasen. Sie beginnt mit der Gegenwart als stabilem Ausgangspunkt, von dem aus zunächst positive Erfahrungen und Erfolge seit der Ankunft in Deutschland dokumentiert werden. Die Rückschau auf die Zeit im Herkunftsland und die Fluchtgeschichte erfolgt behutsam und orientiert sich an der Bereitschaft der Jugendlichen, sich diesen möglicherweise belastenden Erinnerungen zu stellen. Ein besonderer Fokus liegt auf der Würdigung der Bewältigungsstrategien und der entwickelten Stärken.
Konkrete Aufgabenvorschläge für die Zeitstrahlarbeit:
- „Meine ersten Schritte in Deutschland“: Dokumentation wichtiger Meilensteine seit der Ankunft (erste Worte, erste Freunde, erste Erfolge).
- „Brücken zwischen den Welten“: Zweisprachige Gestaltung von Ereignissen, die beide Kulturen verbinden.
- „Kraftquellen-Tagebuch“: Sammlung von Momenten und Menschen, die in schwierigen Situationen Kraft und Unterstützung gegeben haben.
- „Kulturelle Schatzkiste“: Zusammenstellung von Traditionen, Liedern, Geschichten aus der Heimat, die bewahrt werden sollen.
- „Zukunftspfade“: Entwicklung verschiedener Szenarien für die persönliche und berufliche Zukunft in Deutschland.
Rollenspiele
Rollenspiele haben sich als besonders wirksam bei der Verarbeitung von Trennung und Scheidung erwiesen. Sie bieten Kindern und Jugendlichen aus Trennungsfamilien die Möglichkeit, schwierige Situationen in einem geschützten Rahmen zu erkunden und neue Handlungsoptionen zu entwickeln. Die methodische Struktur folgt dabei einem durchdachten und sorgfältig strukturierten Aufbau, der mit einer behutsamen Annäherung an die Thematik beginnt. Nach einer Warm-up Phase, die der emotionalen Sicherheit dient und durch Vertrauensübungen und leichte Spielsequenzen in die Arbeitsweise einführt, werden in der Gruppe relevante Themen identifiziert und bearbeitet. Die eigentlichen Rollenspiele greifen typische Alltagssituationen auf, etwa den Umgang mit Wochenendbesuchen beim anderen Elternteil oder die Begegnung mit neuen Partnern der Eltern. Auch der Umgang mit elterlichen Konflikten und das Leben zwischen zwei Haushalten werden thematisiert. In der anschließenden Reflexionsphase werden die gemachten Erfahrungen auf verschiedenen Ebenen verarbeitet: Die emotionale Ebene ermöglicht das Erkunden und Ausdrücken von Gefühlen, während auf der kognitiven Ebene das Verständnis für komplexe Zusammenhänge gefördert wird. Die Entwicklung konkreter Handlungsstrategien unterstützt die Kinder dabei, ihren Alltag besser zu bewältigen. Die soziale Dimension der Rollenspiele ermöglicht zudem den Austausch mit anderen Betroffenen und das Erleben von Gemeinschaft in einer herausfordernden Lebenssituation.
Die thematische Arbeit orientiert sich an den konkreten Alltagserfahrungen der Kinder und Jugendlichen. Typische Situationen wie Wohnortwechsel, neue Partnerschaften der Eltern oder die Kommunikation zwischen den Familiensystemen werden aufgegriffen und spielerisch bearbeitet. Dabei ist es wichtig, nicht nur problematische Situationen darzustellen, sondern auch gelungene Bewältigungsstrategien zu entwickeln und einzuüben.
Konkrete Aufgabenvorschläge für die Rollenspielarbeit:
- „Gefühlstheater“: Darstellung und Exploration verschiedener Emotionen in typischen Trennungssituationen.
- „Alltagsszenen neu gedacht“: Entwicklung alternativer Handlungsmöglichkeiten für herausfordernde Situationen.
- „Familienkonferenz“: Simulation von Gesprächen zwischen allen Beteiligten mit Fokus auf konstruktive Kommunikation.
- „Zukunftswerkstatt“: Entwicklung und Erprobung von Ideen für eine positive Gestaltung der neuen Familiensituation.
- „Perspektivenwechsel“: Einnehmen verschiedener Rollen zum besseren Verständnis aller Beteiligten.
Digitale Storytelling-Projekte als moderne Form der Biografiearbeit
Digitale Storytelling-Projekte bieten insbesondere Jugendlichen einen zeitgemäßen und attraktiven Zugang zur biografischen Arbeit. Die technische Umsetzung erfolgt dabei unter sorgfältiger Berücksichtigung von Datenschutz und Persönlichkeitsrechten. Die Methode eignet sich besonders für Jugendliche, die sich verbal weniger gut ausdrücken können oder ihre Geschichte lieber mittels digitaler Medien erzählen möchten.
Nach einer grundlegenden Einführung in die Mediengestaltung entwickeln die Teilnehmenden ihre persönlichen Geschichten zunächst in Form von Storyboards. Die kreative Gestaltung umfasst die Sammlung und Aufbereitung verschiedener Materialien wie Fotos, Musik und Texte, die durch entsprechende Übergänge und Effekte zu einer stimmigen Erzählung verbunden werden. Besonders wertvoll ist die Möglichkeit, Interviews und Statements wichtiger Bezugspersonen einzubinden und eigene Zukunftsvisionen audiovisuell zu gestalten. Die Präsentation der fertigen Arbeiten in der Gruppe schafft einen Rahmen für wertschätzende Rückmeldungen und den Austausch über gemeinsame Erfahrungen. Die abschließende Dokumentation der Lernerfahrungen ermöglicht es den Jugendlichen, ihre persönliche Entwicklung im Prozess zu reflektieren und wichtige Erkenntnisse für ihren weiteren Lebensweg mitzunehmen.
Konkrete Aufgabenvorschläge für digitales Storytelling:
- „Meine Geschichte in Bildern“: Erstellung einer Fotocollage mit Überblendungen und Texteinblendungen.
- „Soundscape meines Lebens“: Kombination von Musik, Geräuschen und gesprochenen Texten zu einer akustischen Biografie.
- „Video-Tagebuch“: Dokumentation wichtiger Momente und Gedanken über einen bestimmten Zeitraum.
- „Interview-Projekt“: Aufzeichnung und Montage von Gesprächen mit wichtigen Bezugspersonen.
- „Multimediale Zukunftsvision“: Gestaltung eines digitalen Vision Boards mit Bildern, Tönen und Texten.
Herausforderungen und Grenzen der Biographiearbeit
Die Biographiearbeit birgt trotz ihres großen Potenzials auch spezifische Herausforderungen. Ein zentraler Aspekt ist die Möglichkeit der Aktivierung schmerzhafter Erinnerungen, die sensibel aufgefangen werden müssen. Besondere Aufmerksamkeit erfordert die Gefahr einer möglichen Retraumatisierung, die durch professionelle Begleitung minimiert werden muss. Grundlegend für eine erfolgreiche biografische Arbeit ist das Vorhandensein einer vertrauensvollen Beziehung zwischen Fachkraft und Klient. Diese Aspekte unterstreichen die Notwendigkeit einer fundierten Ausbildung der Fachkräfte und einer sorgfältigen methodischen Planung.
In manchen Fällen kann es notwendig sein, therapeutische Unterstützung hinzuzuziehen, insbesondere wenn im Verlauf der biografischen Arbeit tiefer liegende psychische Belastungen deutlich werden. Die Fachkräfte müssen dabei ihre eigenen professionellen Grenzen kennen und respektieren. Eine weitere Herausforderung liegt in der Gestaltung eines angemessenen Settings, das sowohl zeitliche als auch räumliche Ressourcen erfordert. Die kontinuierliche Dokumentation und Evaluation der Arbeit ist ebenfalls bedeutsam, um den Prozess nachhaltig zu gestalten und die Qualität der Intervention zu sichern.
Fazit #
Biographiearbeit erweist sich als ein wertvoller und vielseitiger Ansatz in der Sozialen Arbeit und insbesondere in der Kinder- und Jugendhilfe. Die theoretische Fundierung durch konstruktivistische, narrative und salutogenetische Konzepte sowie die Lebensweltorientierung bietet einen soliden Rahmen für die praktische Arbeit. Die vorgestellten Methoden und Beispiele zeigen die breite Anwendbarkeit und Flexibilität des Ansatzes, der je nach Zielgruppe und Kontext spezifisch angepasst werden kann. Besonders hervorzuheben ist dabei die Kombination aus strukturiertem methodischem Vorgehen und individueller Gestaltungsfreiheit, die es ermöglicht, auf die jeweiligen Bedürfnisse und Ressourcen der Klienten einzugehen.
Für die professionelle Praxis in der Sozialen Arbeit bedeutet dies, dass Fachkräfte sowohl über fundiertes theoretisches Wissen als auch über praktische Methodenkompetenz verfügen müssen. Die Kenntnis verschiedener Interventionsmöglichkeiten und die Fähigkeit, diese situationsangemessen einzusetzen, sind dabei ebenso wichtig wie eine reflektierte und ethisch fundierte Grundhaltung. Die Auseinandersetzung mit den Grenzen und Herausforderungen der Methode trägt zu einer verantwortungsvollen und professionellen Anwendung bei.
Für die Zukunft der Biographiearbeit zeichnen sich verschiedene Entwicklungsperspektiven ab. Die zunehmende Digitalisierung eröffnet neue Möglichkeiten der medialen Gestaltung und Dokumentation biografischer Prozesse. Gleichzeitig gewinnt die kulturelle Sensibilität in der Arbeit mit Menschen unterschiedlicher Herkunft an Bedeutung. Die Weiterentwicklung traumasensibler Ansätze und die verstärkte Einbindung systemischer Perspektiven werden die Methode weiter bereichern. Dabei bleibt die grundlegende Zielsetzung bestehen: Menschen dabei zu unterstützen, ihre Lebensgeschichte zu verstehen, zu verarbeiten und als Ressource für die Gestaltung ihrer Zukunft zu nutzen.
Quellen
- Hölzle, C. (2011). Gegenstand und Funktion von Biografiearbeit im Kontext Sozialer Arbeit. In C. Hölzle & I. Jansen (Hrsg.), Ressourcenorientierte Biografiearbeit: Grundlagen – Zielgruppen – Kreative Methoden (2. Aufl., S. 31-54). VS Verlag für Sozialwissenschaften.
- Lattschar, B., & Wiemann, I. (2018). Mädchen und Jungen entdecken ihre Geschichte: Grundlagen und Praxis der Biografiearbeit (5. Aufl.). Juventa Verlag.
- Ruhe, H. G. (2014). Praxishandbuch Biografiearbeit: Methoden, Themen und Felder. Beltz Juventa.
- Rosenthal, G. (2002). Biographical Research. In C. Seale, G. Gobo, J. F. Gubrium, & D. Silverman (Eds.), Qualitative Research Practice (pp. 48-64). SAGE Publications.
- McAdams, D. P., & McLean, K. C. (2013). Narrative Identity. Current Directions in Psychological Science, 22(3), 233-238.
- Antonovsky, A. (1997). Salutogenese: Zur Entmystifizierung der Gesundheit. dgvt-Verlag.
- Thiersch, H. (2014). Lebensweltorientierte Soziale Arbeit: Aufgaben der Praxis im sozialen Wandel (9. Aufl.). Beltz Juventa.